Barbaros Altuğ: „Sticht in meine Seele“ Mutiger Roman über den Genozid an den Armeniern

Eine türkischstämmige französische Journalistin soll über den Mord an dem armenischen Journalisten Hrant Dink berichten. Dabei ist ihr Vater von armenischen Terroristen ermordet worden. Die Hauptfigur von Barbaros Altuğs Roman ist außerdem lesbisch – der Autor schreckt vor keinem Tabubruch zurück. Hören Sie bei Beitrag in der DLF Audiothek.

Die Protagonistin in Barbaros Altuğs Roman soll über die Ermordung des türkisch-armenischen Journalisten Hrant Dink berichten. Derin ist jung, sie lebt in Paris, ihre Familie stammt aus der Türkei. Sie hat gerade begonnen, bei einer bekannten Zeitschrift Karriere zu machen. Als 2007 der armenische Journalist Hrant Dink ermordet wird, soll Derin nach Istanbul fahren, um über die Beerdigung zu berichten. Nur widerwillig stimmt sie zu:

„Insgeheim aber ärgerte es mich, dass ein Ort, an den ich seit Jahren keinen Fuß mehr gesetzt hatte, nach wie vor als meine ,Heimat‘ angesehen wurde. Außerdem hatte ich von dem Journalisten, der dort ermordet worden war, nie zuvor gehört. Ich kannte überhaupt nur eine Handvoll Armenier, und das waren alles berufliche Kontakte aus Paris.“

Barbaros Altuğ hält sich nicht lange mit solchen Fragen nach der Zuschreibung von „Heimat“ auf. Seine Protagonistin Derin denkt pragmatisch und akzeptiert, dass sie eben die Einzige in der Redaktion ist, die Türkisch kann.

Mutiges Buch über ein Tabu 

Vor ihrer Abreise wird sie in Paris mit einem alten Mann bekannt gemacht, der ihr berichtet, was er als Junge erlitten hat:

„In jeder Provinz, jedem Dorf, jeder Stadt hatten sie die Armenier zusammengetrieben. Jeden mit seinem Bündel. (…) Es dauerte Monate. Vier, vielleicht sogar fünf. (…) Dann wurden wir (…) von Bewaffneten umzingelt. Die töteten die Männer, die ihren Frauen zu Hilfe eilen wollten. (…) Immer wieder kamen weitere Bewaffnete, vergewaltigten die Frauen und rissen den Männern die Goldzähne heraus. Ich war ein Kind, das bis dahin noch Angst vor Feldmäusen gehabt hatte. Und nun musste ich für Männer und Frauen, die aus Mund und Nase bluteten, Wasser heranschaffen.“

Derin geht es wie vielen Türken und Türkischstämmigen: Sie hat nur vage Vorstellungen von dem, was in den Jahren 1915 und 1916 geschah. Die Vertreibungen, die Demütigung und Ermordung von mehreren Hunderttausend Menschen darf bis heute in der Türkei nicht als Genozid bezeichnet werden. Derin geht dem verdrängten Thema nach, aus journalistischer Neugier. Und das, obwohl ihre eigene Familie Opfer von armenischem Terror wurde:

„Was ich verstanden hatte, war, dass mein Vater nicht wieder vom Flughafen zurückkehren würde. Dass er bei einem Bombenanschlag in Orly ums Leben gekommen war, sollte ich hingegen erst später erfahren. Es war der 15. Juli 1983. Dieses Datum markierte nicht nur den Tag, an dem mein Vater gestorben war; es war auch der Tag, an dem mein Leben sich aufspaltete auf verschiedene Teile der Welt.“

Sachlich, eindringlich und engagiert erzählt

Man mag einwenden, dass das etwas konstruiert wirkt: Ausgerechnet diejenige, die dem tabuisierten Schicksal der Armenier nachspürt, hat ihren Vater durch ein von Armeniern verübtes Attentat verloren. Am Ende der Recherchen kommt eine noch überraschendere familiäre Verstrickung hinzu. Aber Barbaros Altuğ erzählt das so selbstverständlich, dass es überhaupt nicht künstlich hingebogen wirkt. Sein Stil ist insgesamt sehr leicht und unaufgeregt. Sachlich. Auch schauerliche Szenen wie die Erinnerungen an die grauenhaften Vertreibungen schildert er aus einer Beobachterperspektive. Gerade diese scheinbar kühle Haltung aber macht das engagierte Buch besonders packend und eindringlich.

Einen Roman über den Völkermord an den Armeniern zu veröffentlichen, ist mutig für einen türkischen Autor. Selbst der Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk wurde wegen entsprechender Äußerungen mehrfach vor Gericht gezerrt. Barbaros Altuğ, der 1972 geboren wurde, lebt seit 2016 im Exil, ohne Aussicht auf Rückkehr. Dieses Buch kann in der Türkei nicht erscheinen.

Ein hochpolitischer Roman mit lesbischer Heldin

Altuğ nimmt den Leser mit in die Vergangenheit seines Landes, die nicht vergehen will: der Mord an Hrant Dink, die offizielle Leugnung des Armenier-Genozids; aber auch die „Gegengewalt“ armenischer sogenannter Befreiungskrieger wird nicht verschwiegen. „Sticht in meine Seele“ ist ein hochpolitisches Buch – das aber auch feinfühlig erzählte, „romanhafte“ Stellen hat.

„Später (…) hakte Isabel sich bei mir unter, dann steckte sie ihre Hand, wie ein Kätzchen, das einen Schlafplatz sucht, in meine Tasche und umfasste meine Hand. In jener Nacht spürte ich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder dieses Kribbeln, das einem das Glück verursacht, am Leben zu sein.“

Sowohl dass Derin – aus der Perspektive ihrer französischen Heimat – „Migrationshintergrund“ hat, als auch, dass sie lesbisch ist, wird mit erfrischender Nachlässigkeit als Nebensache behandelt. So selbstverständlich, wie Barbaros Altuğ über die historische Wahrheit schreibt, so selbstverständlich liebt seine Protagonistin Frauen. Auch das ist eine Stärke dieses hinreißenden Romans zwischen Paris, Istanbul und Eriwan – ein im besten Sinne und in vielerlei Hinsicht aufklärerisches Buch.

Beitrag von Dirk Fuhrig.

Barbaros Altuğ: „Sticht in meine Seele“
aus dem Türkischen von Johannes Neuner
Orlanda Verlag, Berlin. 148 Seiten, 16 Euro.